Was eher britisch anmutet, entpuppt sich als klassisch bajuwarisch: Michael Weseley erblickt 1963 in München das Licht der Welt. Dort studierte er sowohl Fotografie als auch Bildende Kunst. Mit seinen extremen Langzeitbelichtungen erfasst der Künstler Prozesse, die sich über Zeiträume von Minuten, Stunden oder auch Jahren erstrecken und hält die vergehende Zeit fest: Für beispielsweise fünf Minuten stillstehenden Menschen, während eines Tages aufblühende oder verwelkende Pflanzen oder über Jahre im Bau entstehende Architektur.
Ähnlich wie Michael Ruetz, der gerade in der Akademie der Künste ausgestellt wird, geht Wesely der Frage nach, wie sich die Entwicklung einer Stadt visuell veranschaulichen lässt. Während bei Ruetz Standort und Sichtachse der Kamera immer dieselben sind und er quasi zu unterschiedlichen Zeiten seine Bilder macht, geht Wesely wesentlich aufwendiger vor. Der 63-jährige legt seine Fotos über historische, hauptsächlich architektonische Fotos des 19. und 20. Jahrhunderts, die er in diversen Archiven aufstöbert und schafft so Zeitsprünge zwischen einst und heute. In Überblendungen untersucht er auf jene Weise die Entwicklung der Stadt Berlin.
Grundlage hierfür bildet eine äußerst genaue Rekonstruktion des Standortes der historischen Kamera. Von exakt diesem Spot fotografiert er dann die heutige Ansicht. Die in der Ausstellung Michael Wesely. Berlin 1860 – 2023 präsentierten Arbeiten resultieren folglich aus der Überblendung seiner mit jeweils gleichem Blickwinkel geschossenen Fotos mit den historischen Aufnahmen damaliger Berliner Reporter. Um hier einige zu nennen, seien Albrecht Meydenbauer, Waldemar Titzenthaler oder Max Missmann aufgeführt. Mir war niemand davon ein Begriff, was vielleicht daher rührt, dass sie alle bereits im 19. Jahrhundert ihrer Profession nachgingen.
Die Schau, auf einen großen Raum begrenzt, ist neben den oben beschriebenen Doubledays unter anderem in Bereiche wie Human Conditions, Potsdamer Platz, Demonstration gegliedert. Fotos zu letzterem Topic sind ebenfalls spannend, weil durch die Mehrfachbelichtung beispielsweise sich vorwärts bewegende Menschenzüge gar nicht mehr sichtbar sind. Dafür erscheint auf manchen Bildern ein Polizist, der stillsteht, gleich in dreifacher Ausführung. Die Baufortschritte am Potsdamer Platz, die Wesely von 1997 bis 2027 begleitet, werden in 11 Bildern dokumentiert, auch hier keine einzige Person oder gar Auto sichtbar.
Besonders Spaß macht zu erraten, was an Gebäuden nun heute eigentlich noch existiert. Infolge der Überlagerung von Bildschichten durch zwei Negative ist nicht immer klar erkennbar, ob die historischen Bauten nun heller oder dunkler erscheinen. Hier kannst Du mal testen, wie es um Deine Ortskundigkeit bestellt ist. Nicht immer lässt es sich so easy nachvollziehen wie am Alexanderplatz, wo Spaziergänger von damals heutigen Reisenden begegnen (eindrücklich auf dem Titelfoto erkennbar).
Wer sich also mit der drastischen Umgestaltung des städtischen Raums näher beschäftigen will, ist in der Ausstellung bestens aufgehoben. Aber auch jeder, der Interesse an früherer Architektur in unserer Hauptstadt hegt.
WO?
Museum für Fotografie
Jebensstr. 2, Berlin-Charlottenburg, S/U-Bhf. Zoo
WANN?
Di bis Sonntag 11- 19 Uhr, Do bis 20 Uhr, Mo geschlossen
WIE LANGE?
12.April. – 1.September 2024
EINTRITT
12 Euro, ermäßigt 6 Euro
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