Filmstill zu "Amrum" (TM & © 2025 Warner Bros. Entertainment Inc. )

Das Nordseeparadies im Frühjahr 1945

Endlich mal wieder ein Fatih Akin-Werk, das überzeugt: Amrum. Und das haben wir allen voran dem jungen Nanning, verkörpert durch Jasper Billerbeck in seiner ersten Rolle, zu verdanken. Er spielt mit einer Präsenz und Geradlinigkeit, die eine Laura Tonke alt aussehen lässt. Der Film basiert auf dem autobiografischen Roman des Regisseurs und Drehbuchautors Hark Bohm. Er verbrachte seine Kindheit auf Amrum. Inzwischen 86-jährig schrieb er am Drehbuch mit, aber überließ Akin, dessen Mentor er einst war, selbst die Regie.
Verhandelt werden die letzten Kriegstage. Die Familie: Mutter, Nanning und zwei Geschwister, flieht nach Amrum, nachdem sie in Hamburg ausgebombt worden war. Der Vater, ein ranghoher Nazi, landet in Kriegsgefangenschaft. Die Hochschwangere – gespielt von Laura Tonke – ist überzeugte Faschistin und leidet nach dem Selbstmord Hitlers an (postnatalen) Depressionen. Sie ist weder ansprechbar noch will sie essen. Akin schafft mit ihrem Charakter ein wunderbares Abbild an ideologischer Verbohrtheit. Da hat selbst die Schwester Ena als politisches Korrektiv kaum eine Chance. Die Inselbewohner gehen nicht gerade zimperlich mit der „Festland“-Familie um, sie werden als Fremde beschimpft, und auf teils gleiche Ebene mit den Geflüchteten aus Ostpreußen, die gerade scharenweise vor den Russen fliehen, gesetzt. Der 12-jährige Nanning muss lernen, sich zu behaupten.
Der Hauptplot der tiefgründigen Geschichte kreist nun um den Jungen, der seiner Mutter den Wunsch nach einem Weißbrot mit Butter und Honig erfüllen will. Dafür scheut er in den Tagen um die Kapitulation keine Mühen und erweist sich als äußerst spitzfindig. Es geht auch um das moralische Erwachen eines Kindes, denn der Junge begreift, was passiert und erahnt die weltanschaulichen Überzeugungen seiner Eltern. Dieses Ringen um eine Wahrheit der widersprüchlichen Eindrücke und Erfahrungen spiegelt sich auch im stets wachsamen und leicht misstrauischen Blick des Jungen wider.
Dabeisein oder Ausgrenzung gehören in den Filmen von Fatih Akin zum wiederkehrenden Topos. Der türkisch-deutsche Regisseur erforschte häufig die Erfahrung von Immigranten, die er selbst in Hamburg als Sohn türkischer Einwanderer sammelte. Hier beackert er das Feld in Form einer feinsinnigen Geschichte, die er als Historiendrama auf der einen und Naturfilm auf der anderen Seite erzählt. Er verbindet die Zeichen des Krieges mit der Schönheit der rauen Natur. Kameramann Lindenlaub findet dabei geradezu poetische Bilder, sei es, wie eine Eule in den Nachstunden hinter Nanning herfliegt, zwei Vögel miteinander kopulieren oder die Wattwürmer beim Ausstoßen ihres verspeisten Sands winzige Kackhaufen-Skulpturen bilden. Außerdem trägt zur Authentizität bei, dass Darsteller wie Kruger, Tonke, oder Buck das Amrumer Friesisch „Öömrang“ sprechen, das sich wie eine Mischung aus Englisch und Norwegisch anhört. Aber keine Angst, diese Passagen werden untertitelt. Übrigens feierte der Film dieses Jahr in Cannes seine Premiere. Besonders berührt hat mich die letzte Einstellung, die dem Ganzen ein wunderbar versöhnliches Ende schenkt.

Der Film läuft in folgenden Kinos
Astor Film Lounge, Charlottenburg
B-ware! Ladenkino, Friedrichshain
Blauer Stern, Pankow
Capitol Dahlem, Zehlendorf
Cinema Paris, Charlottenburg
Cosima-Filmtheater, Schöneberg
Eva-Lichtspiele, Wilmersdorf
Filmkunst 66, Charlottenburg
Filmtheater am Friedrichshain, Prenzlauer Berg
Hackesche Höfe Kino, Mitte
Kino in der Kultur Brauerei Berlin, Prenzlauer Berg
Passage, Neukölln
Tilsiter-Lichtspiele, Friedrichshain
Toni & Tonino, Weißensee
Union Friedrichshagen, Köpenick
Yorck/New Yorck, Kreuzberg
Zoo Palast, Charlottenburg

CAST
Regie: Fatih Akin
Drehbuch: Fatih Akin, Hark Bohm
Kamera: Karl Walter Lindenlaub
Darsteller:
Jasper Billerbeck – Nanning
Laura Tonke – seine Mutter Hille
Lisa Hagmeister – seine Tante Ena
Diane Kruger – Bäuerin Tessa Bendixen
Detlev Buck – Sam Gangsters
Jan Georg Schütte – sein Onkel Onno
Matthias Schweighöfer – sein Onkel Theo
Hark Bohm – himself
Filmlänge 93 Min

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