Schauspielerin Aenne Schwarz vorm Filmplakat, Foto: AS
Schauspielerin Aenne Schwarz vorm Filmplakat, Foto: AS

Wer bin ich, und wenn ja, …

Bei dem neuen Film Alle die du bist von Michael Fetter Nathansky kann sich schon leicht Verwirrung einstellen, denn es gibt nicht nur DAS Liebespaar Nadine und Paul, sondern auch eine Kuh (der wie ein Bulle daherkommt), eine mütterlich alte Dame, ein Schuljunge und ein Twentysomething spielen hier mit die Hauptrollen.
Gleich in der ersten Szene stockt einem der Atem, wenn Nadine die Kuh beruhigt und sie ganz dicht, ganz fest umarmt Du kannst förmlich den Duft riechen, den so ein Tier verströmt. Da ist nichts geschnitten und gefaked. Ein großes Chapeau an Frau Schwarz, die hier beherzt zur Tat schreitet.
Also worum geht’s? Eine grandiose Aenne Schwarz als Nadine, alleinerziehende Mutter, verlässt ihre Heimat Brandenburg, (was sich nur anhand ihres versuchten berlin-brandenburgischen Dialekts erschließen lässt) um einen Job in der Kohleindustrie bei Köln anzutreten. Leider erfahren wir nicht, was ihre Beweggründe sind, und so irrsinnig lukrativ scheint eine Stelle als Fabrikarbeiterin nun auch nicht, aber sei’s drum.
Ihre anfängliche Scheu, bei der sie einer Kollegin nicht mal in die Augen schauen kann, verschwindet rasch. Bald avanciert Nadine zur Sprecherin der gesamten Belegschaft, sind alle in heller Aufruhr, behält sie den kühlen Kopf. Sie trifft auf den impulsiven Kollegen Paul, in den sie sich verliebt. Daraus resultiert auch ihre Wahrnehmung verschiedener Gestalten, die alle – Vorsicht, Spoiler! – den Liebenden verkörpern. Nadine spürt sich endlich wieder selbst, die beiden werden ein Paar, und es ist schön anzuschauen, wie sich ihre Zuneigung entwickelt. Das sich ständig wandelnde Erscheinungsbild Pauls setzt der Regisseur als surrealistische Element und Gegenpol in dem sonst eher nüchtern erzählten Drama ein. So kann der Zuschauer die Wirklichkeit, wie Nadine sie erlebt, etwas sichtbarer machen. Sieben Jahre streichen ins Land, nun nimmt die junge Mutter Paul nur noch in seiner echten äußeren Gestalt wahr, die ihr total fremd erscheint. Zudem ist ihr Arbeitsplatz durch den Strukturwandel in der Kohleindustrie gefährdet, die Ereignisse überschlagen sich geradezu. Neben Ehemann, die beiden kleinen Töchtern, der Arbeit als Mechatronikerin kümmert sich Nadine auch noch um die Abwehr der drohenden Arbeitslosigkeit und ihre Kollegen. Wieviel Power in der kleinen Frau steckt, ist ungeheuerlich. Dass das an der Substanz zehrt, ist klar. Stets geht es ums Kämpfen. Auf der Strecke scheint so Nadines Liebe für Paul zu bleiben, wenngleich sich dieser mit Verve und Phantasie um die Kinder kümmert, aber eben auch Panik schiebt, soll er einen neuen Job antreten. Die inzwischen 31-jährige fasst beherzt den Entschluss, dagegen anzukämpfen und versucht den Rollen, die Paul einst für sie verkörperte, wieder Leben einzuhauchen. Ob das gelingt, Nadines Frage, nach dem ‚Wen sie sucht, wenn sie liebt‘, eine Antwort erfährt, darfst Du am Ende selbst entscheiden.

Der im nordrhein-westfälischen Kohlemilieu gedrehte Film, soll auch ein Genrefilm sein, primär zeigt er jedoch im Gegensatz zu ebenfalls im Tagebau angesiedelten Wir waren Kumpel immer das, was Du als Zuschauer auch selbst interpretierst: Ein Plädoyer für den liebenden Blick. Alle Figuren im Film gehören und verweisen auf sich, haben ihre eigene Geschichte. Was auch daher rührt, das der aus Köln stammende, nicht nur Regie führende, sondern zudem Buch schreibende Nathansky, sie mit persönlichem Hintergrund wählte. Gedreht wurde an vielen Originalschauplätzen, so lässt sich beispielsweise das auftauchende große Kraftwerk auch als Bild einer starken Liebe lesen.
Dass in Alle die du bist ein Komma fehlt, impliziert eine Weiterführung des Satzes, er lässt sich gerne um einen Wunsch wie: Alle die du bist, vermisse ich, ergänzen. Nathansky ist eine außergewöhnliche, manchmal auch verstörende Liebesgeschichte gelungen, die nach ihrer Präsentation auf der diesjährigen Berlinale nun in den gängigen Kinos hoffentlich jede Menge Zuschauer berührt.

SCREENINGS in derzeit folgenden Kinos:
Hackesche Höfe Kino, Rosenthaler Str. 40-41, Mitte
Mo, 10.06.24 – Mi, 12.06.24, je 21.45 Uhr
Do, 13.6.- Mi, 19.06.24, je 17 Uhr und 22 Uhr

fsk, Segitzdamm 2, Kreuzberg
Mo, 10.06.24 – Mi, 12.06.24, je 20 Uhr, Do, 13.6.- Mi, 19.06.24, je 17.45 Uhr

Kant Kino, Kantstr. 54, Charlottenburg
Mo, 10.06.24 + Mi, 19.6.24, je 15.30 Uhr

Tilsiter-Lichtspiele, Richard-Sorge-Straße 25 A, Friedrichshain
Mo, 10.06.24 – Mi, 12.06.24, je 21.45 Uhr
Do, 13.06., Sa, 15.6., Mo, 17.6. und Mi, 19.6., je 16 Uhr
Fr, 14.06., So, 16.6., und Die, 18.6., je 21.45 Uhr

Darsteller:
Aenne Schwarz (Nadine)
Carlo Ljubek (Paul)
Youness Aabbaz (Paul, jung)
Sara Fazilat (Ajda)
Naila Schuberth (Mica)
Sammy Schrein (Paul, Kind)
Jule Nebel-Linnenbaum (Paul, Frau)

Credits:
Deutschland / Spanien 2024
108 Minuten

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