Eingang der Galerie f³ in Kreuzberg, Foto: AS

Ein Fotoreporter – viele Fotobücher

Dirk Reinartz (1947–2004) prägte die Reportagefotografie in Deutschland wie kaum ein anderer. Die in der Schau Kein schöner Land… präsentierte Bildauswahl richtet den Blick auf die deutsche Identität mit all ihren Widersprüchen und geschichtlichen Verankerungen, aber auch ihrer Neuorientierung nach 1989. Kein schöner Land (1978-1987), angelehnt an ein altes deutsches Volkslied aus dem Jahre 1840, später auch mal von Andrea Jürgens intoniert, war die erste Sammlung von Deutschlandbildern in Buchform (1989), für die Reinartz Motive aus dem eigenen Archiv auswählt. Sie zeigen den öffentlichen Raum und die Stadtlandschaft, nur auf wenigen Bildern sind Menschen zu sehen. Immer aber ist der Mensch als Gestalter seiner Umwelt präsent. Der gebürtige Aachener will mit diesen Motiven Bezug nehmen auf das in den USA entstandene New Topographic Movement, eine fotografische Stilrichtung, die überformte Landschaften kritisch analysiert.

Besonders spannend erschien mir die Gegenüberstellung von Bismarck. Einmal eine kleine Fotoreihe Bismarck. Vom Verrat der Denkmäler, entstanden zwischen 1988-1991. Als Selbstdarstellung einer Epoche machen die Denkmäler eine Art Analyse der Zeitgeschichte möglich. Die furchteinflößenden Walrossschnauzer der Kanzlerskulpturen in westdeutschen Städten lassen erahnen, was Otto von Bismarck zwischen der Reichsgründung 1871 und dem machtbesessenen Nationalismus noch Anfang des 20. Jahrhundert für die Deutschen bedeutete. Überdies konsumieren die Deutschen auch heute massenweise Bismarck in Form von Mineralwasser, Schnapst und eingelegtem Hering.

Bismarck in Deutschland vs. Bismarck von America (Foto: Dirk Reinartz)

In Bismarck von America, 1998, portraitiert Reinartz keinen Staatsmann, sondern eine Stadt. Bismarck regiert North Dakota. Für die Amis bedeutet Bismarck einfach Qualität. Wie es kommt, dass Amerika mit seinen damals frischen, demokratischen Idealen als Namenspatriot für eine Community ausgerechnet einen erklärten Antidemokraten wählt, beantwortet Historiker Prof. Frank Vyzralek so: Als Antidemokrat war er zunächst, 1872, nicht bekannt. Er galt als Siegertyp, der in Europa Ordnung geschaffen hat. Zudem seien Amerikaner manchmal sehr naiv. Sie können bei den demokratischen Prinzipien gern ein Auge zudrücken, wenn andere Interessen in den Vordergrund rücken. Du kannst Dir sicher vorstellen, wie diese aussehen … (klingelingeling).
Und wie kam es überhaupt zu der Serie? Reinartz war auf dem Flug nach NYC, aus den Lautsprechern klang der Wetterbericht aus … ? Richtig, aus Bismarck. Das erweckte seine Neugierde, die er dem Zeit-Magazin schmackhaft machen konnte.
In der Ausstellung gibt es noch andere Serien zu entdecken, wie beispielsweise Das stille Ende von 1983, das die Entwicklungen in Schnackenburg aufzeigt, oder Warteschleife von1991, die als eine der wenigen in Farbe ausgeführt ist, oder Reifeprüfung Ost-West von 1992, die Abiturienten in West- und Ostdeutschland ablichtet, oder die Deutschstunde bei Gauck von 1996, die auf die unrühmliche Stasivergangenheit in der DDR auch durchaus humorvoll reagiert.
Noch ein kurzer Abriss zur Person: Reinhartz, in Aachen geboren, legte eine geradlinige Karriere hin. 1965-68 absolvierte er in seiner Heimatstadt eine Lehre und schloss diese mit der Gesellenprüfung zum Fotografen ab. 1970 nahm er ein Fotografie-Studium bei Otto Steinert an der Folkwangschule für Gestaltung in Essen auf. Zur etwa gleichen Zeit gelang es ihm, im Wettbewerb „Jugend fotografiert Forschung“ den ersten Platz zu ergattern. Er fotografierte in der Kernforschungsanlage Jülich eine Zelle, die just leer wurde. Als Preis winkte eine Reise nach Japan mit dem Stern Fotograf Eberhard Seeliger. Es folgten etliche Auslandsaufenthalte, die ihn irgendwann auch zermürbten. Er er kündigte beim Stern, der Reiserei überdrüssig, mit innenwohnendem Gefühl, den Themen nicht gerecht zu werden. 1977 wechselte er zur Fotografenagentur VISUM, arbeitete aber noch frei für den Stern und die Zeit. Auf Deutschlandthemen aus den Bereichen Soziales, Kultur und Geschichte legt der Vater von vier Kindern weiterhin sein Augenmerk. Ab 1980 widmet er sich Künstlerportraits, insgesamt werden es 142 Arbeiten, zu den Künstlern gehören namhafte wie Gerhard Richter, Meret Oppenheim oder Joseph Beuys. Unermüdlich wie eine fleißige Ameise fotografiert er, vornehmlich im Kleinformat, alles, was ihn interessiert und unter dessen Oberfläche er gelangen kann. Oft werden Publikationen (Kein schöner Land. Deutschlandbilder, Afangar, totenstill) daraus, weil er einen guten Draht zum Steidl Verlag hat.
1998 beginnt er an der Muthesius-Hochschule für Kunst und Gestaltung in Kiel als Dozent. Das 30-minütige Video im hinteren Galerieraum zeigt seinen Vortrag anlässlich seiner Bewerbung auf ebenjene Professur in Kiel. Seine Frau Karin Reinartz aktualisierte und ergänzte die Präsentation später mehrfach. Viel zu früh starb der großartige Zeitdokumentarist mit 56 Jahren, plötzlich und unerwartet in Berlin. Beigesetzt ist er auf Waldfriedhof von Buxtehude – seine letzte Heimatstadt.
Dir bietet sich also eine gute Gelegenheit, den von Reinartz eingefangenen, kulturellen Eigenarten insbesondere an den Schnittstellen beider deutschen Staaten, nachzuspüren.

WO?
f³ – freiraum für fotografie
Waldemarstraße 17

10179 Berlin

WANN?
Mittwoch – Sonntag
, 13 – 19 Uhr
letzter Einlass: 18.30 Uhr
bis zum 2. März 2025

WIEVIEL?
6 Euro Eintritt, erm. 4 Euro


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert