Die Brotfabrik greift in Zeiten der Pandemie wieder auf die bereits 2018 bewährte Idee zurück und präsentiert in einem als temporäre Galerie genutzten Bauwagen Werke des 1997 verstorbenen Jörn Reißig. Die kleine, aber mit eindrucksvollen Fotos bestückte Ausstellung trägt den Titel „Wenn die Unruhe zu groß wird“.
Schwerpunkt bilden hier Aufnahmen trister Räume Berlins, von bröckelnden Fassaden, düsteren Hinterhöfen bis hin zu verwaisten Plätzen, an denen Details über Alterung und Wandel durch Abriss, Sanierung und Neubau ablesbar sind. Auch kannst Du ein Bild vom alten Gasometer im Ernst-Thälmannpark entdecken, das zum Leidwesen vieler Anwohner 1984 gesprengt wurde, anstatt es zum Freilichtkino, Ausstellungsraum oder Gewächshaus umzufunktionieren. An den riesigen runden Behälter und dem damaligen Bürgerprotest gegen den Abriss erinnern Tafeln mit Fotos und Text in dem noch heute existierenden Gaswerk-Verwaltungsgebäude in der Danziger Straße 101, das nebenbei.
Reißig, der 1958 in Greifswald das Licht der Welt erblickte, steht für eine Mehrheit, die das DDR- System mit seinen alltäglichen Repressalien und Zwängen erlebt und sich seinen eigenen Weg des persönlichen Widerstands bahnte. Er agierte als selbstverantwortliche, aber zerrissene Persönlichkeit und dokumentierte nach ’89 auch den Einbruch der bundesdeutschen Demokratie und der kapitalistischen Wirtschaft in den Sozialismus der DDR.
Wenn Du Dich wunderst, dass Patienten aus der Psychiatrie Arnsdorf in Sachsen und dem Berliner Krankenhaus Herzberge auch oft zu Motiven des Fotografen gehören, musst Du wissen, dass Reißig selbst mit einer manisch-depressiven Erkrankung zu kämpfen hatte und regelmäßig behandelt wurde. Ursprünglich Ingenieur, beschäftigte sich Reißig ab 1984 mit der Fotografie und richtete sich in der Wohnung im Prenzlauer Berg eine Dunkelkammer ein. Aus dem Herumexperimentieren wurden solide Arbeiten mit dokumentarischem Charakter. Neben kleinen Ausstellungen unterstützte er den Verein „Irrenoffensive“ durch seine Arbeit und veröffentlichte u.a. in der Literaturzeitschrift „Sklaven“, die zwischen Mai 1994 und Mai 1999 herausgegeben wurde.
Die präsentierten Fotos lassen sich als zeitgeschichtliche Dokumente lesen und verdeutlichen zugleich die innerlichen und äußerlichen Konflikte Reißigs, der mit der Schau eine gebührende Würdigung erfährt.
WO?
Freifläche vor der Brotfabrik
Caligariplatz 1, Berlin -Weißensee
WANN?
täglich von 12-18 Uhr
zu sehen bis zum 31. Dezember 2020